Selbstbestimmt in meinem Tempo gebären.

Selbstbestimmt in meinem Tempo gebären.

Geburtsbericht von Michaela

Schon tagsüber habe ich gespürt, dass es ganz bald losgeht. Die Anspannung in mir wuchs und sicherlich auch die Angst - obwohl oder gerade weil es das zweite Kind war - vor der Geburt.

Ich beschloss früh schlafen zu gehen. Gegen 23:00 Uhr wurde ich wach und stellte fest, dass ich eine Zeichenblutung hatte. Aus der Vermutung wurde Gewissheit … jetzt dauert es nicht mehr lange. Aufgeregt bin ich zu meinem Mann ins Arbeitszimmer gelaufen, und gemeinsam haben wir beraten, wie es jetzt weitergeht. Klar war, wir sagen Gabriele erst mal Bescheid. Also rief ich auf der Festnetznummer an und erreichte, statt wie erwartet den AB, gleich Gabriele persönlich.

Da es ab Zeichenblutung entweder schnell gehen oder noch zwei Wochen dauern kann und ich auch keine starken Wehen hatte, beschlossen wir zunächst zu schlafen und am nächsten Morgen noch einmal zu telefonieren bzw. uns eben nachts zu sehen, wenn es losgehen sollte.

Donnerstag 1. Oktober 2015

Am nächsten Morgen war mein Bauch immer noch kugelrund, und er „wehte sich Richtung Geburt ein“. Allerdings waren es noch keine Geburtswehen. Ich telefonierte mit Gabriele, und wir besprachen, dass ich sie rufe sobald ich sie brauche.

Unsere erste Tochter brachte mein Mann gleich morgens zu den Großeltern, damit ich genügend Zeit und Ruhe haben würde, mich auf die Geburt vorzubereiten.

So richtete ich das Geburtszimmer her. Ich bezog schon das Bett entsprechend, stellte Kerzen auf, hörte Entspannungsmusik und atmete Wehen weg. Ab ca. 10:00 Uhr vormittags fing ich an die Abstände zwischen den Wehen zu notieren. Diese waren ziemlich unregelmäßig. Mal hatte ich alle zehn Minuten eine Wehe und dann 25 Minuten keine. Da der Raum fertig war und wir eigentlich „nur noch“ abwarten mussten, bis es losgeht, haben mein Mann und ich zunächst entspannt Mittag gegessen. Danach haben wir uns einen Film angeschaut und ich habe Kekse gegessen. Insgesamt war es ein sehr schöner Nachmittag. Später haben wir uns aufs Bett gelegt, Wehen aufgeschrieben und von unserem Baby sowie unserer Tochter gesprochen. Irgendwann wurden die Wehen stärker. Ich konnte nicht mehr liegen und setzte mich auf meinen Pezziball. Da die Abstände zwischen den Wehen immer noch recht groß waren, entschieden wir uns zu warten, bis sich die Abstände auf fünf Minuten eingependelt haben. Irgendwann wusste ich, dass ich jetzt nicht mehr warten kann und auch wenn die Abstände immer noch größer als fünf Minuten waren, musste ich bereits laut tönen, um die Wehen auszuhalten. Also rief mein Mann Gabriele an. Ab Gabrieles Ankunft hatte ich das Gefühl, dass alles strukturierter abläuft – sogar die Wehen. Ich wurde untersucht, und Gabriele stellte fest, dass mein Muttermund erst 4 cm geöffnet war. Ich brach innerlich das erste Mal zusammen. Ich hatte bereits den ganzen Tag Wehen und in den letzten Stunden durchaus schmerzhafte Wehen. Warum war mein Muttermund nicht voll oder zumindest schon recht weit geöffnet? Gleichzeitig bekam ich ein schlechtes Gewissen. Was, wenn ich Gabriele nun doch zu früh gerufen habe und sie ganz umsonst mitten in der Nacht aufgestanden ist? Ich äußerte meine Sorge, und Gabriele sagte, dass wir doch besprochen hatten, dass ich sie anrufe, wenn ich sie brauche. Ich habe sie gebraucht, und jetzt ist sie da und alles ist gut.

Gabriele stellte fest, dass das Köpfchen unseres Babys nicht richtig ins Becken eingetreten ist. Das Köpfchen lag schräg auf dem Muttermund oder nur halb auf dem Muttermund und konnte diesen nicht richtig öffnen. Ich musste verschiedene therapeutische Positionen einnehmen, um das Kind davon zu überzeugen, mit dem gesamten Kopf in mein Becken einzutreten und den Muttermund ganz zu öffnen. Aber unser Baby hatte tiefenentspannte Herztöne und es überhaupt nicht eilig, ins Becken zu rutschen. Je länger diese Phase dauerte, umso größer wurde meine Angst vor der eigentlichen Geburt. Ich hatte plötzlich Angst vor dem Gefühl, wenn die Fruchtblase platzt, und ich hatte Angst davor, was noch kommen würde.....

Schließlich sagte Gabriele, dass sie unser Baby gerne mit dem Tuch unterstützen möchte. Ich sollte mich auf unsere Matte legen, und sie legte ein Tuch, welches eine große Schlinge war, unter mein Becken. Das eine Ende der Schlinge lag also unter meinem Becken, und das andere Ende legte Gabriele sich um die Schultern. Dann hob sie mein Becken an und schaukelte es sanft. Durch diese Bewegung sollte unserem Kind zusätzlich der Weg ins Becken gezeigt werden. Ja, wir machten zwischenzeitlich sogar den Witz, dass unser Baby etwas verwirrt sein muss und sich daher in meiner Gebärmutter verlaufen hat. Jetzt zeigen wir ihm den Weg nach draußen.

Während ich seitlich auf dem Bett lag, das untere Bein streckte und das obere anwinkelte (therapeutische Position) spürte ich einen deutlichen Ruck im Becken, und ich empfand eine große Freude über diesen Geburtsfortschritt. Hatte ich doch das Gefühl, dass sich nichts tut und die Geburt schien mir, als würde sie nie wieder aufhören. Immer wieder ging ich zwischen den Wehen auf die Toilette. Ich kroch durch das Zimmer und brach in Tränen aus. Gabriele sprach an, dass wir aufgrund meiner Verzweiflung und Schmerzen ins Krankenhaus fahren könnten. Es bestehe zwar keine Gefahr für das Baby und auch nicht für mich, aber ich müsse entscheiden, wie viel Kraft ich noch habe und ob ich die Geburt zu Hause zu Ende machen möchte. Im Krankenhaus würde ich eine PDA bekommen und die Schmerzen wären vorbei. Der Gedanke ins Krankenhaus zu müssen hat mich jedoch noch viel mehr erschüttert, als alle Gedanken, die ich vorher hatte. Ich entschied für mich, dass ich Kraft habe und das Baby zu Hause bekomme.... und die Wehen gingen weiter. Gabriele sagte irgendwann zu meinem Mann, dass er sich gerne etwas ausruhen könne, und er schlief tatsächlich etwas. Gabriele und ich tigerten durchs Haus und ertrugen gemeinsam die Wehen weiter – während wir uns unterhielten. Irgendwann machte mein Mann mir ein Honigbrot, damit ich bei Kräften bleibe.... und die Wehen gingen weiter.

Am Freitag den 2. Oktober 2015 war ich gegen 8:00 Uhr morgens auf der Toilette. Die Fruchtblase war noch nicht gesprungen. Ich wusste nicht, wie lange es noch gehen würde, sah mich mich aber noch nachmittags unter Geburt. Schließlich fehlte ja noch ein großer Teil der Geburt. Um viertel vor neun sagte Gabriele zu mir, dass der Muttermund jetzt bis auf Saum geöffnet ist. Ich ging immer wieder auf den Geburtshocker, den Gabriele mitgebracht hatte. Um neun Uhr sagte ich zu Gabriele, dass ich pressen muss. Sie sagte „dann press“. Und plötzlich ging es ganz schnell. Erste Wehe: Fruchtblase (fühlt sich echt komisch an), zweite Wehe: Kopf (ich höre noch wie mein Mann in mein Ohr ruft: „Das Köpfchen ist geboren...“)  und dritte Wehe: Körper. Dann war es vorbei.

Am Freitag den 2. Oktober 2015 um 9:14 Uhr wurde unser wunderschöner Sohn Sebastian geboren. Er wog 3900 Gramm und hatte eine Körperlänge von 53cm.

Die Geburt, die Sebastian und ich erlebt haben, war eine ganz besondere Geburt. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass Sebastian die Zeit hatte, die er brauchte, um zu uns auf die Welt zu finden. Und ich bin Gabriele unendlich dankbar dafür, dass sie an mich geglaubt hat und mir die Kraft gegeben hat Sebastian, selbstbestimmt und in seinem Tempo zu gebären.

Marco Hess